Dienstag, 23. September 2008

Autotransfer zur Zentralen Kinderpoliklinik in Gomel (Belarus)






Orgelklänge werden zu Motorgeräuschen
(Tschernobyl-Kinderhilfe Pöttmes-Schrobenhausen überbringt Fahrzeug für Klinik)
Vladimir Nikolaevitsch Pintschuk weiß, dass seine Klinik auch 22 Jahre nach Tschernobyl von humanitärer Hilfe abhängig ist. Träume werden dabei für den Chefarzt der Zentralen Städtischen Kinderpoliklinik Gomel, Weißrussland, selten Realität. Heute aber bleibt er ungläubig auf der Treppe zur Klinik stehen, bevor er sich fast ehrfurchtsvoll einem solchen lang gehegten Traum nähert: Zu seinen Füßen harrt ein für weißrussische Verhältnisse neuwertiger Ford Tourneo Connect der Übergabe an die Klinik. Der Besitz eines derart hochwertigen Fahrzeuges für eine Gomeler Klinik ein absolutes Novum. Selbst die Gomeler Presse wird von der Spende aus Schrobenhausen exklusiv berichten.
Der Erlös zahlreicher Benefizkonzerte in Schrobenhausen und Pöttmes sowie viele Einzelspenden wurden zu PS, Klänge zu Motorgeräuschen.


Jetzt liegen knapp 2000 km, fast 30 Stunden Fahrt und eine weißrussische Zollnacht mit ihrem ganz eigenen Charme hinter Evi Schmidt-Deeg und Manfred Schmidt, den Organisatoren der Schrobenhausener Initiative: Trotz tagelanger Telefongespräche und akribischer Vorbereitung landen sie am falschen Grenzübergang, müssen kurz vor Mitternacht zurück, um den LKW-Übergang zu suchen. Ein rotes Kreuz auf der Kühlerhaube lässt sie problemlos mehr als Hundert LKWs passieren, angeblich auch eine rote Ampel: Die Strafpredigt kommt postwendend. Doch das ist nur die – polnische - Ouvertüre. Sieben Stunden später durchqueren die Schrobenhausener das weißrussische Zolllabyrinth mit schlafwandlerischer Sicherheit. Rund 25 Stationen haben sie absolviert, haben gelernt, dass eine internationale Auslandsreiseversicherung nicht zwangsläufig Weißrussland einschließt und ein Satz Winterreifen etwas völlig Überflüssiges ist. Originalton: Ein Ersatzreifen genügt. Was wirklich zählt in dieser Nacht sind Stempel, Stempel auf einer Flut von Dokumenten.
600 km quer durch die Pripjatsümpfe die letzte Etappe: Das Auge verliert sich in der Weite jetzt fast ausgetrockneter Sumpflandschaften Malerisch morbide Dorfkulissen ducken sich hinter riesigen abgeernteten Roggenfeldern. Zwischen friedlich grasenden Rindern, Störchen auf Futtersuche und gemächlich dahinrollenden Pferdefuhrwerken mutet der Ford mit deutschem Kennzeichen fast wie ein Fremdkörper an, scheint die Zeit still zu stehen, die verheerende Atomkatastrophe von 1986 etwas längst Vergangenes.


Plötzlich aber drängen sich die bohrenden Fragen nach dem Ausmaß dieser Katastrophe wieder unerbittlich auf: Im Wechselspiel von Licht und Dunkel der Kiefern- und Birkenwälder werden am Straßenrand körbeweise Pfifferlinge angeboten. Noch immer sind sie hochgradig radioaktiv verseucht. Niemand sollte auch nur einen einzigen davon verzehren. Die Realität ist eine andere.
Hoffnungsvoll stimmt manches in der 500.000-Einwohner-Metropole Gomel: hie und da frisch gepflasterte Gehsteige, eine attraktive Fassade oder renovierte Kirche, gepflegte Parkanlagen. In den Randzonen entstehen farbenfrohe Stadtviertel mit hohem Freizeitwert und gigantische Sportzentren - unverhohlener Stolz des stellvertretenden Vorsitzenden des Städtischen Exekutivkomitees, dem die Spende aus Schrobenhausen einen offiziellen Empfang wert ist. Die Stadt tue alles für Familien mit Kindern und Jugendliche. Chefarzt Pintschuk, gleichzeitig verwaltungstechnisch für alle Gomeler Kinderpolikliniken verantwortlich, mag dem nicht grundsätzlich widersprechen, das Budget für die städtischen Kinderkliniken sei dennoch völlig unzureichend und indiskutabel.
Seine Klinik versorgt medizinisch ca. 15.000 Kinder und Jugendliche - das Fahrzeug aus Schrobenhausen ein Segen also für Hausbesuche, Patienten- und Medikamententransporte. Auch in der Klinik selbst hat sich manches zum Positiven gewandelt, nicht zuletzt dank humanitärer Unterstützung aus Deutschland und Italien, das 15-jährige Engagement der Schrobenhausener und Pöttmeser inbegriffen: Einzelne Abteilungen sind grundlegend renoviert und hie und da sogar mit zeitgemäßem medizinischem Gerät ausgestattet.
Ein Teil der Kliniktoiletten ist mittlerweile makellos gefliest und würde jeder Meister-Proper-Werbung zur Ehre gereichen. Das Zimmer des Chefarztes ist zweckmäßig ausgestattet und selbst Korridore und Abteilungen, die noch immer nach Erneuerung lechzen, zeigen Ansätze von Ordnung und Gepflegtsein.
Das monatliche Durchschnittseinkommen in Weißrussland liegt bei 300 Dollar. Dass selbst Chefarzt Vladimir seinen außerhalb der Metropole gelegenen Gemüsegarten, die „Datscha“, bestellt, ist nicht nur Hobby: Grundnahrungsmittel, auch Elektro- und Haushaltsgeräte sind fast so teuer wie in Deutschland und ein Drittel des Einkommens ist für Miete fällig. Ärzte zählen, neben Lehrern, zu den am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen. Die Putzfrau bei „Belaneft“, dem größten (Petrochemie-) Unternehmen Weißrusslands, so Vladimir mit leicht sarkastischem Untertun, verdiene mehr als ein Arzt. Viele haben einen zweiten Arbeitsplatz im Wochenend- oder Notdienst - und eben ihre Datscha, gleichbedeutend mit Überlebensstrategie. Auch Alla und Mischa, in der Klinik als Oberärztin bzw. Spezialist für Ultraschalldiagnostik tätig und seit vielen Jahren Freunde und Gastgeber der Schrobenhausener, haben dort für vier Generationen ein kleines Paradies geschaffen: ein liebevoll gezimmertes Holzhaus mit Sauna inmitten großer Gewächshäuser und Freiflächen. Für Gemüse und auch Obst muss man kaum Geld ausgeben. Beruhigend: Zumindest bei den Gewächshausprodukten, nach der Rückkehr in München getestet, ließ sich keine radioaktive Belastung nachweisen.

Erfreulich auch ein anderes Ergebnis: Familien aus dem Schrobenhausener und Pöttmeser Raum haben über viele Jahre „ihre“ Patenkinder aus sozial und gesundheitlich besonders benachteiligten Gomeler Familien mit monatlich 10 bis 15 € unterstützt. Alla hat die Patengelder an die Familien weitergereicht und sie betreut. Die Schrobenhausener Initiatoren begegnen im Lehrsaal der Kinderklinik dankbaren Müttern und selbstbewussten Jugendlichen. Die Kleinen von damals machen alle eine gute Schulausbildung, studieren oder haben bereits einen Arbeitsplatz gefunden. Die Gewissheit, nicht nur materiell von Menschen in fast 2000 km Entfernung mitgetragen zu werden, bedeutete Lebensmut und Motivation, war die Wende in ihrem Leben, wie es Valentina, Mutter zweier Patenkinder, treffend formuliert. Dennoch: Für die Ärztin Alla, selbst tagtäglich den Spagat zwischen familiärer Überforderung und beruflich-menschlichem Engagement praktizierend, sind Sätze wie „Ich kann heute kein Medikament kaufen, meine Kinder brauchen Brot.“ noch immer bedrückender Alltag.
Zukünftige Spenden will die Schrobenhausener Initiative deshalb solchen von keinem sozialen Netz aufgefangenen Familien zukommen lassen, damit Mütter nicht mehr vor der unmenschlichen Wahl Brot oder Medikament, satt oder gesund werden
stehen.
Für Fragen steht Dr. Evi Schmidt-Deeg gerne unter schmidtdeeg@t-online.de zur Verfügung.





Weitere Fotos von unserer Gomel-Reise:
Rastplatz am Straßenrand auf der Hinfahrt


Einfahrt nach Gomel


Beim Zoll in Gomel; das Auto kommt erst mal 14 Tage unter Zollverschluss


Haus gegenüber der Kinderpoliklinik

Blick aus der Wohnung unserer Gastgeber

Rundgang in Gomel












Treffen mit Patenkindern und ihren Angehörigen.

In Behandlungsräumen der Kinderpoliklinik


Besuch im Puppentheater




Mit Alla und Mischa samt Familie auf ihrer Datscha







Alla verarbeitet ihre Feldfrüchte von der Datscha, damit sie für die Familie Vorräte für den Winter hat


Bilder vom Einkaufen: (Durchschnittseinkommen ca. 300 US$, 3000 WR Rubel entsprechen ca. 1 EUR)



Rückfahrt ab Gomel, mit dem Bus in 24 Std. nach Berlin. Dann weiter mit der Bahn nach Schrobenhausen.